Die mit ihren Schatten tanzt

Es hat sie viel Zeit und Energie gekostet, bis sie ihre Schatten erkennen und akzeptieren konnte.

 

Über etliche Jahre hinweg hat sie mit ihrer Dunkelheit einen Krieg geführt, der von Anfang an zum Scheitern verdammt war.

 

Zuerst trug sie diese Kämpfe im Außen aus, indem sie all jene, die sie paradoxerweise am meisten liebte mit Urteil, Überheblichkeit und Ignoranz strafte.

 

Ihre Kampfstrategien erschienen unschlagbar und in Anbetracht ihrer hohen Gewinnrate waren sie das auch. Doch forderten ihre scheinbaren Siege ihren stillen Tribut. Tiefe schmerzvolle Wunden, die zwar geleckt, jedoch nicht ordentlich versorgt wurden.

Viel zu nah lauerte ihr nächster Kampf, so dass an Heilung gar nicht zu denken war.

 

Schlacht um Schlacht, Wunde um Wunde, Schmerz um Schmerz.

Und so wurde Schmerz zu ihrer Realität, indem er sich in Leid verwandelte.

 

Die gebrochene Kriegerin sah sich dem Ende nah, viel zu tief waren ihre eingebüßten Verletzungen. Und wie sie da im Sterben lag, konnte sie ganz deutlich etwas vernehmen. Eine leise Stimme, von der sie mit unerschütterlicher Sicherheit wusste, dass diese immer da gewesen war. Doch schrie ihr Leid viel zu laut, als dass sie die Stimme inmitten ihrer Kämpfe hätte hören können.

 

Erst als sie bereits am Boden lag, zur Kapitulation gezwungen, krochen ihre Schatten gnadenlos in sie hinein. Ein unsagbarer Schmerz durchfuhr ihr ganzes System. Urplötzlich wurde alles ganz still. Ein tiefes friedvolles Gefühl begann sich in ihr auszuweiten. Und da war sie wieder, diese wohlklingende Stimme, die nun ganz deutlich zu ihr sprach:

 

„Was wählst du? Liebe oder Angst?“

 

Hatte sie nicht immer - wenn auch vergebens - um Liebe gekämpft?

Hatte sie nicht mit all ihrer Macht - wenn auch vergebens - ihre angsteinflößenden Schatten in die Flucht geschlagen?

 

Daraufhin begann das Leben sie geduldig zu lehren, dass jeder Kampf vergebens sein MUSSTE, damit sie die ins Außen projizierten Schatten als ihren eigenen innewohnenden Schmerz erkennen konnte. Und so zeigte ihr das Leben auch, dass sie sich durch all ihre Kriege hindurch selbst verletzte. Indem sie ihre Dunkelheit als etwas von sich getrenntes ansah, machte sie diese zu ihrem größten Feind.

 

Doch sollte diese Erkenntnis noch nicht vollends genügen, um sie zu lehren was wahrhaftiger Friede bedeutet. Als einstige Kriegerin war sie es nach wie vor gewohnt, sich in Kampfbereitschaft aufzuhalten. Und so behielt sie ihre Schatten zwar für sich, jedoch begann sie diese nun in ihrem Innern zu attackieren. Diese Kämpfe allerdings sollten nicht lange anhalten, denn sie war nun erfahrener und weiser. Sie konnte bei jedem Schlag spüren, dass ihre Schatten durch ihren Widerstand an Größe gewannen, sie selbst an Kraft einbüßte und ihr Schmerz sich in erneutes Leid zu verwandeln drohte.

 

Und wieder: „Was wählst du? Liebe oder Angst?“.

 

So geschah, was früher undenkbar für sie gewesen war. Sie machte sich ihre ehemaligen Feinde zu treuen Freunden. Zum allerersten Mal schenkte sie ihren Schatten ihre volle Aufmerksamkeit. Sie begann ihnen zuzuhören, sie kennen - und lieben zu lernen. Heute verbindet sie eine tiefe Freundschaft, geprägt von Demut und Akzeptanz.

 

Und selbst wenn sich ihre Schatten mal wieder vor ihr aufzubäumen drohen, nimmt sie diese an die Hand. Mit geschmeidigen Bewegungen führt sie ihre Freunde in einen heilsamen Tanz. Mal wild, mal sanft, mal laut, mal leise.

 

Endlich hat sie erkannt, dass sie ohne ihre düsteren Freunde niemals die Möglichkeit zur Wahl gehabt hätte. Endlich kann sie auf allen Ebenen ihres Daseins fühlen, dass sie ohne sie niemals erfahren hätte, was bedingungslose Liebe ist.

 

Ohne Hell kein Dunkel. Ohne Tief kein Hoch. Ohne Schwarz kein Weiß. Die irdische Dualität könnte nicht simpler, nicht komplexer und schon gar nicht vollkommener sein.