
"Cogito ergo sum" - "Ich denke, also bin ich", dies konstatierte Descartes, einer der populärsten Philosophen des 16. Jahrhunderts. Einige Jahrhunderte später
versah der Begründer der Anthroposophie Rudolf Steiner diese Aussage mit einer Negation: "Cogito ergo NON sum", mit der Begründung, dass "Denken" und "Sein" einander ausschließen.
Ich persönlich schließe mich aus eigener Erfahrung letzterer Aussage an. Wie verhält es sich bei dir, wenn du in diese beiden Thesen hineinspürst? Womit
resonierst du in diesem Moment mehr?
Dass der Mensch sich mit seinem Verstand identifiziert, ist sicher nicht Descartes zuzuschreiben. Bereits viele Jahrtausende vor seiner Zeit hat sich dieser
Irrglaube im menschlichen System festgesetzt wie ein wütender zerstörerischer Parasit. Elend und Schmerz haben sich ihren Weg gebahnt und tun dies bis heute – im Kleinen wie im
Großen.
Warum ist das so? Und wieso soll der Verstand für eine durch Schmerz geprägte Realität verantwortlich sein?
Die einfachste und kürzeste Antwort ist, dass weder unser Herz noch unser Körper jemals auf die Idee kommen würden, Kriege anzufachen und somit Leid zu
erzeugen. Und wenn ich von Kriegen spreche, meine ich nicht nur jene, die ganze Völker ausgerottet und Nationen zerstört haben. In erster Linie spreche ich von jenen Kriegen, die wir alle
tagtäglich führen und derer wir uns meistens nicht bewusst sind – andernfalls könnten sie ja gar nicht existieren. Sie nehmen sowohl ihren Anfang als auch ihren Ausgang in unserem Inneren.
Dazwischen projizieren wir sie auf das Außen und kommen daher zum Entschluss, dass dieses Außen für unseren Schmerz verantwortlich sei. Diese Prozesse geschehen so automatisch, dass sie ganz
selbstverständlich Teil von uns bzw. der Welt zu sein scheinen und wir sie daher nicht wahrnehmen. Sie bilden unsere Realität und erscheinen uns daher als normal.
Es kann eine ganze Weile dauern, bis wir auf die Idee kommen, dass wir selbst unsere Realität bestimmen können und somit auch, ob wir leiden wollen oder
nicht. Interessanterweise wählt eine nicht geringe Anzahl von Menschen dennoch das Leiden. Für den ein oder anderen mag diese Behauptung unzutreffend oder gar provokativ sein. Wer beim Lesen
dieser Zeilen Emotionen der Ablehnung verspüren sollte, befindet sich inmitten eines Beispiel für die Identifikation mit seinem Verstand.
Der Verstand als solcher ist ein hervorragendes Werkzeug, solange wir ihn gebrauchen anstatt von ihm gebraucht zu werden. Indem er unser Denken, Fühlen und
Handeln bestimmt, bezieht er seine Stärke und erhält daher die Kontrolle, die sein Überleben sichert. Der Verstand mutiert in fließendem Übergang zum Ego-Verstand. Ein Zustand, der das Hier und
Jetzt nicht zulässt, weil er all seine Macht aus vergangenen und potentiellen zukünftigen Erfahrungen bezieht, die in der Summe unsere Realität bestimmen.
Versuche dir folgende Fragen einmal ehrlich zu beantworten: Wie oft führst du innere Dialoge, die entweder schon (weit) in der Vergangenheit oder in einer
potentiellen Zukunft liegen? Wie oft erinnerst du dich mit Bedauern an Erlebnisse, die dich einst glücklich gemacht haben und heute nicht mehr sind? Wie oft bist du traurig darüber, dass du nicht
mehr hast, was irgendwann mal zu deinem Leben gehörte? Wie oft denkst du, dass dir etwas im Außen fehlt, um dein inneres Heil zu erhalten und zu bewahren? Wie oft glaubst du, dass deine Umwelt
und/oder deine Mitmenschen für deine (un)angenehmen Emotionen verantwortlich sind? Wie oft bereust du vergangene Handlungen? Wie oft fürchtest du dich vor dem, was möglicherweise noch alles vor
dir liegt? Wie oft verschiebst du dein Glück auf ein zukünftiges Ereignis?
Wie oft lehnst du den gegenwärtigen Moment und dessen Umstände ab, weil du in einer Zeitschleife gefangen bist, die einzig in deinem Kopf
existiert?
Indem wir ablehnen, was IST, entsteht Leiden und somit Schmerz. Der Verstand kann und möchte nicht in der Gegenwart verweilen, denn
Gegenwärtigkeit bedeutet seinen Tod. Und was bleibt dann noch übrig? Wer bin ich, wenn ich nicht mehr mein Verstand bin?
Wenn der Moment eintritt, in dem wir die Identifikation mit unserer Vergangenheit und mit einer darauf aufbauenden möglichen Zukunft in Frage stellen, wird
unser Ego-Verstand alles daran setzen, diesen Prozess zu verhindern. Wir sollten uns darüber im Klaren sein, dass er zunächst noch sehr viel Macht besitzt und daher alle denkbaren (!) Geschütze
auffahren wird. Er möchte auf keinen Fall sterben, daher wird er mit allen Mitteln versuchen, uns von seiner Wichtigkeit und unserer Abhängigkeit zu überzeugen. "Ich denke, also bin ich" - das
ist seine Philosophie.
Die meisten Menschen - mich eingeschlossen - haben sich über Jahrzehnte hinweg mit ihrem Ego-Verstand gleichgesetzt. Wenn der Moment kommt, in dem wir uns für
mehr Bewusstsein öffnen, dann kann das zunächst beängstigend sein. Unbehagliche Gefühle machen sich breit. Angst vor Verlust. Verlust von Identität. Verlust von schmerzvollen Dramen, die uns
trotz allen Leidens ein vertrautes Gefühl von Identifikation verleihen.
Doch bin das wirklich ICH? Ist das mein wahres Selbst? Wie kann etwas ICH sein, was so leicht ins Wanken gerät und Emotionen auslöst, die einer
Todesangst gleichkommen?
Nicht selten ist es ein extremer Leidensdruck, der uns ins Selbst-Bewusstsein zwingt - so auch bei mir. Ich habe das Rufen meines wahren - vom Verstand
unabhängigen - Ichs lange Zeit nicht wahrgenommen, weil ich viel zu beschäftigt damit war, mein Ego zu füttern. Ein Drama löste das andere ab. Ich war geradezu süchtig nach diesen Dramen, die
darin bestanden, immer und immer wieder im Außen die Bestätigung für meine bisher gemachten Erfahrungen zu suchen. Und so schlitterte ich von einer verheißungsvollen Begegnung in die andere. Wenn
ich gerade mal keine hatte, widmete ich den Großteil meiner Energie dem Nachdenken über alle mögliche Aspekte vergangener Begegnungen und erschuf mir gleichzeitig Stoff für neue Dramen, indem ich
neue Begegnungen suchte. Wenn ich gerade mal nicht mit diesen verfahrenen Beziehungs-Themen beschäftigt war, sorgte ich mich um meine schulischen/universitären Leistungen und stand gleichzeitig
unter einem permanenten selbst erschaffenen Druck, gepaart mit einer großen Portion Versagensangst.
Klar kam ich nicht um die Feststellung, dass sowohl meine Sorge als auch meine Suche bisher kein befriedigendes Ergebnis erzielte. Das Ego schien niemals satt
zu werden. Ganz im Gegenteil, es wurde immer hungriger und forderte immer mehr. Mehr Bestätigung, mehr Action, mehr Drama. Auf den ersten Blick schien ich nach Bestätigung von Anerkennung und
Liebenswürdigkeit zu suchen. Erst heute ist mir bewusst, dass ich immer und immer wieder erhalten habe, was ich durch meine Gedanken und Handlungen tatsächlich suchte: Die Bestätigung dafür dass
ich NICHT liebenswert war und um Anerkennung buhlen musste.
Erst als ich an einem Punkt angelangt war, an dem mein Leiden schier unerträglich wurde und mir im wahrsten Sinne des Wortes die Luft zum Atmen nahm, habe ich
mich getraut so tief wie niemals zuvor in meinen Schmerz einzutauchen. Es war als bliebe die Zeit stehen. Vergangenheit und Zukunft spielten für eine ewige Sekunde lang keine Rolle
mehr.
Erst als ich es wagte, dem uralten Schmerz in mir unmittelbar zu begegnen anstatt ihm mit meinen erlernten Strategien zu entfliehen, hat sich etwas
wesentliches verändert. Und ich wusste, spürte ganz plötzlich mit jeder Faser meines Seins: DAS war es, wonach ich mein Leben lang gesucht hatte!
Indem ich in meinem emotionalen Feuermeer stehen blieb und die gleichzeitig aufsteigende Leere zuließ, hat sich diese bereits wenige Momente
später mit etwas gefüllt, was viel größer und echter ist als mein Ego es je sein könnte. Eine vertraute und gleichzeitig befremdliche Stille hat sich ihren Raum gesucht. Friedvolle Stille. Ein
tiefes und wahrhaftiges Gefühl von "alles ist gut". Es glich dem Erwachen aus einem langen (Alb)Traum, von dem ich bisher glaubte, er sei real.
Manchmal - und zu Beginn des Erwachens noch sehr viel häufiger - scheint nur ein einziger Wimpernschlag zu vergehen, bis das um's Überleben kämpfende Ego
erneut Oberhand gewinnt und sich mit heimtückischen Verteidigungsstrategien zurück meldet. Er tarnt sich etwa in Lust, Begehren, Schmerz und nicht zu vergessen, in der alles umfassenden
Angst.
Je müder wir von unserer bisherigen Suche durch all unsere Dramen hindurch sind, desto mehr Bereitschaft können wir in diesen Prozessen aufbringen. Den
Ego-Verstand seiner Macht zu berauben, kann zu Beginn ziemlich anstrengend sein, daher braucht es neben aller Bereitschaft auch eine eine gesunde Portion Disziplin - wobei mir das Wort "Fokus" an
dieser Stelle viel stimmiger erscheint.
Wenn der Leidensdruck zunimmt und die alten Strategien immer weniger greifen, dann ist das sowohl die schwierigste als auch die einfachste Voraussetzung
dafür, eine neue Wahl zu treffen. Die schwierigste deshalb, weil unser Ego-Verstand im Leiden auf Hochtouren läuft und dadurch umso mehr Macht erhält.
Die Meisterschaft besteht darin, den ewig währenden Augenblick einer neuen Wahl, zu erkennen, für sich zu ergreifen und zu bewahren. Eine Wahl, die eigentlich
gar keine neue ist, sondern viel älter und gleichzeitig größer als alles, von dem ich bisher glaubte, es sei mein Leben: Ich wähle mich. Losgelöst von allem, was mich geprägt hat und dafür
verantwortlich ist, dass ich bisher geglaubt habe, ich sei mein Ego-Verstand. Losgelöst von allem, was dafür gesorgt hat, dass ich fortweg die gleichen schmerzvollen Erfahrungen suche. Losgelöst
von allem, was nicht ich bin und somit losgelöst von allem, was ich sein "musste", um die Liebe und Anerkennung zu erhalten, nach der ich mich so sehr sehne.
Diese Wahl können wir jederzeit treffen und dabei ist immer nur das Jetzt entscheidend. Ich kann mir beispielsweise vornehmen, irgendwann
glücklich zu sein, doch bleibt dieses "irgendwann" immer nur ein in eine potentielle Zukunft projiziertes potentielles Jetzt. Wenn ich also im Hier und Jetzt nicht glücklich bin, wie sollte ich
dann in einem zukünftigen, noch nicht existierenden und auf meinem jetzigen Denken aufbauenden Jetzt glücklich sein? Diese Tatsache mag etwas holprig daherkommen, was schlichtweg darin begründet
liegt, dass sie holprig ist. Ihre Logik ist so offensichtlich, dass es einem "gesunden" Verstand schwer fallen sollte zu begreifen, warum wir dennoch Tag für Tag hoffnungsfroh in eine nicht
existente Zukunft blicken, die auf einer leidvollen Vergangenheit aufbaut, welche wiederum unsere Gegenwart bestimmt.
Unsere Vergangenheit existiert strenggenommen gar nicht. Der einzige Beweis dafür, dass es sie gegeben haben muss, sind wir und unsere Realität. Das, was wir
im Hier und Jetzt leben, ist das, was wir aufgrund all unserer vergangenen Erfahrungen wurden und sind.
Der erste wesentliche Schritt in die Absolution und dem damit einhergehenden Frieden war daher der Identifikations-Bruch mit meiner Vergangenheit und einer
darauf aufbauenden Realität. Die simpelste doch keineswegs einfachste Art mich dieser Loslösung anzunähern war und ist das bewusste Heraustreten aus meinen automatischen Gedankenabläufen, um auf
diese Art zum Beobachter meines Ego-Verstandes zu werden. Ich richte meinen Fokus aus, indem ich mich zum Zuhörer meiner eigenen Gedanken mache. Ein Zuhörer, der keine Urteile vornimmt, sondern
vollkommen neutral wahrnimmt, was ist.
Dieser erste Bruch setzt bereits ein Signal frei, welches dafür sorgt, dass mein Ego-Verstand ins Wanken gerät. Dass ich zum wertungsfreien Beobachter meiner
Gedanken werde, impliziert, dass ich nicht nur diese Gedanken sein kann, sondern darüber hinaus noch etwas anderes bin.
Unser Unterbewusstsein begreift das blitzschnell und wird alle notwendigen Schritte einleiten, um die Wirkung dieses Identifikationsbruchs allmählich auf die
bewusste Ebene zu bringen.
Zu Beginn gelang mir diese Übung vor allem dann, wenn ich mich einigermaßen in meiner Mitte zu sein glaubte und gleichzeitig eine unterschwellige
Unzufriedenheit wahrnahm. Inmitten eines Dramas hingegen erschien mir das Heraustreten aus meinen automatisch ablaufenden Gedankenketten schier unmöglich. Als im Zeichen der Luft (= Gedanken)
Geborene - und das gleich doppelt - war ich voll und ganz in meinem Element, wenn sich in meinem Kopf selbstzerstörerische Dauerschleifen abspielten. Ich war im wahrsten Sinne des Wortes
geistesgestört. Meine Gedanken waren vergiftet mit Erfahrungen und tief eingeprägten Glaubenssätzen, von deren Existenz ich lange Zeit nicht wusste. Geschweige denn war mir klar, dass sie meine
Realität und somit mein ganzes Leben bestimmten.
Was passiert also, wenn ich aufhöre zu denken? Löse ich mich dann auf? Bin ich dann noch?
Wenn ich mich mit meinem Ego-Verstand gleichsetze und mich daher mit meinen Gedanken identifiziere, dann werde ich mich auflösen. Ich werde so lange und immer
wieder sterben, bis nichts mehr übrig bleibt, außer meinem wahren Selbst. Genau genommen kann Energie sich gar nicht auflösen, daher handelt es sich viel mehr um eine Transformation. Eine
schmerzhafte und gleichzeitig heilsame Transformation. Meine eigene Erfahrung ist, dass es sich tatsächlich wie Sterben anfühlt. Ok ich lebe noch, daher kann ich ja nicht wissen, wie sich Sterben
tatsächlich anfühlt. Aber das Wort "sterben" scheint dieses Gefühl am besten zu beschreiben. Es kommt einer Mischung gleich, die durch tiefe Regungslosigkeit und zugleich unbändige Dynamik
gekennzeichnet ist. Dieser Gegensatz ist so kraftvoll, dass es sich anfühlt, als würde das Herz in tausend Teile zu zerreißen drohen. Angst und Hilflosigkeit steigen auf. Ein schreckliches Gefühl
von Verlorensein breitet sich aus, bis es jede einzelne Zelle im Körper erreicht hat.
Der entscheidende und immer währende Augenblick einer neuen Wahl entscheidet, ob wir sterben, um neu geboren zu werden oder ob wir am Leben
bleiben. An einem Leben, wie wir es bisher gelebt haben. Ein Leben, das uns immer wieder über unsere alten Verletzungen in die schiere Todesangst zwingt, nur um uns erneut mit Pauken und
Trompeten vor die Wahl zu stellen. Oder aber wir lassen zu, dass wir sterben. Klingt dramatisch und ist es auch.
Zugegebenermaßen nicht derart dramatisch, wie die immer wiederkehrenden Erfahrungen, die uns in diesen Tod zwingen. Die Dramatik von Transformationsprozessen
ist subtiler und verwandelt sich ganz automatisch in einen Frieden, der mit dem Verstand und schon gar nicht mit dem Ego erfassbar geschweige denn erfahrbar wäre. Dieser Friede stellt sogar eine
Gefahr für die beiden da, denn was sind Verstand und Ego schon noch, wenn sie nicht mehr zum Einsatz kommen und deshalb auch keine Nahrung mehr erhalten? Wer bin ICH dann noch?
Der Verstand ist ein Mittel, das uns unterstützen und bereichern kann, solange er in seiner Reinheit besteht und seinen Antrieb nicht aus dem Ego, sondern aus
dem Herzen erhält. So oft glaubte ich in meinen Entscheidungen aus dem Gefühl und somit aus dem Herzen heraus gehandelt zu haben. Heute hingegen ist mir klar, dass ich zwar aus meinen Emotionen
jedoch nicht aus meinem Herzen heraus (re-)agiert habe. Hierin liegt für mich auch die Unterscheidung der Begrifflichkeiten: Ein Gefühl ist gelöst von allem, was mein erlerntes Ich in sich trägt
- Emotionen hingegen entstehen durch Störungen ebenjener Gefühle, was wiederum in einem facettenreichen Ego begründet liegt.
Soll das also heißen, dass wir einfach mit dem Denken aufhören sollten und schon erhalten wir alles, wonach wir uns immer gesehnt haben? Ja, nein
und ja.
Wenn wir aufhören zu denken - was alles andere als einfach ist - dann erhalten wir in den Anfängen wahrscheinlich noch etwas weniger als alles und schon gar
nicht das, wovon wir noch glauben(!), dass wir uns danach sehnen. Noch ist unsere größte Sehnsucht nämlich die nach Bestätigung für alles, was wir sind und unsere Realität bestimmt.
Im Denken befinden wir uns inmitten dieser Realität - meistens sogar ohne es zu merken. Auf diese Weise werden wir zu unseren Gedanken, die darüber hinaus in
ihrem Ursprung fremdbestimmt sind.
Diese Tatsache sorgt dafür, dass wir uns trotz und gerade wegen unserer leidvollen, doch gleichzeitig so vertrauten Gedanken auf eine ganz spezielle Art
aufgehoben fühlen.
Wenn wir Ruhe in unsere Gedanken bringen, dann bedeutet das übrigens nicht, dass dadurch unser Intellekt in den Hintergrund gedrängt wird und wir dann alle
verdummen werden. Viel eher ist es so, dass wir die Muster hinter unseren alltäglichen Gedanken enttarnen, anschauen und auflösen. Diese Prozesse werden zunächst einmal alles zum Einstürzen
bringen und umso mehr Sehnsucht nach Bestätigung des Altbekannten und daher Vertrauten erzeugen. Der Ego-Verstand verfügt über Mittel und Wege, die so täuschend echt sind, dass wir uns mit ihnen
identifizieren und daher auf keinen Fall aufgeben möchten. Erst wenn wir uns darin üben, weniger zu denken und mehr zu spüren, wird sich diese Sehnsucht nach Bestätigung unseres Egos nach und
nach auflösen und Platz für das schaffen, was wir tatsächlich sind.
Wenn wir durch die unzähligen Prozesse dieser Loslösung gegangen sind, wird sich nicht nur unser Geist beruhigen, sondern auch unsere Herzensenergie
ausbreiten. Bedürfnisse und Sehnsüchte zeigen sich dann nicht nur symptomatisch, sondern in ihrer Reinheit. Sie verwandeln sich und setzen gleichzeitig etwas frei, was sie erfüllt. Das sind dann
jene Momente in denen wir ganz deutlich spüren, dass alles, was wir für fürchten und tatsächlich brauchen, seinen Ursprung und seinen Ausgang nicht im Außen, sondern in unserem Inneren
findet.
Der entscheidende Augenblick der immerwährenden Wahl ist das, was seine Bezeichnung bereits beinhaltet: Er ist immer und er währt ewig. Es ist der
unmittelbare Moment, das Jetzt, das es zu erkennen und zu leben gilt.
Über Gegenwärtigkeit haben wir den direktesten Zugang zu unserer inneren Quelle, durch die wir das reine Sein erfahren können. Ein Gefühl, das sich nicht denken lässt. Wir sollten erst gar nicht
versuchen, es mit unserem Verstand zu erfassen, denn das ist nicht nur unmöglich, sondern auch äußerst ineffektiv. Sobald wir aus dem gegenwärtigen Moment und der damit eingehenden Gedankenruhe
aussteigen, weil wir diesen Seins-
Zustand mit unserem Verstand begreifen wollen, scheint er sich in Luft aufzulösen. Er ist zwar immer noch da, aber eben nicht über den Verstand zugänglich.
Je öfter und intensiver wir uns im Nichtdenken üben, desto mehr werden wir sein. Dieses reine Sein wirkt sich nicht nur auf unseren Gemütszustand
aus, sondern es wird auch unser bisheriges Leben auf positive Weise verändern.
Jene Augenblicke, in denen mein Geist still ist, waren und sind die echtesten, die ich zwischen all meinen Erfahrungen erleben durfte. Nach viel Übung und
unzähligen Heilungsprozessen kann ich heute zwar behaupten, dass sich jene Augenblicke der Gedankenleere und des beschriebenen Seins-Zustands häufen, jedoch erwische ich mich immer wieder
inmitten unbewusster Denkmuster herum lümmeln. Mittlerweile spüre ich oftmals zeitgleich, wie sich Unzufriedenheit in mir breit macht und mein Ego-Verstand versucht, die Führung zu übernehmen.
Ja, ich kann sogar mit Stolz behaupten, dass ich nun alle Verteidigungsstrategien meines Egos kenne und weiß, wie ich sie weiter auflösen kann. Nur wird mich dieses Wissen nicht unbedingt weiter
bringen, wenn ich im Hier und Jetzt einzig damit beschäftigt bin, weitere Strukturen meines erlernten Ichs zu erkennen und auf diese Weise wieder in den Seilen meiner Gedanken hänge. Wesentlich
ist das Eins-Werden mit dem Augenblick, das Einlassen auf die immer währende Wahl und die Hingabe, diese Wahl zu meiner Wahrheit zu machen.
Manchmal sind wir so sehr in unseren Gedanken gefangen, dass uns das bewusste Heraustreten alles andere als leicht fällt. In solchen Momenten kann das
Besinnen auf unseren Körper besonders heilsam wirken. Als dreieiniges Wesen (Körper, Geist, Seele) bietet uns die Aufmerksamkeit auf unsere "Hülle" eine wunderbare Möglichkeit, sich dem besagten
Seins-Zustand und dem damit einhergehenden friedvollen Gefühl anzunähern.
Wenn wir in unseren Denkkonstrukten gefangen sind, dann ist ein Teil von uns nicht anwesend. In diesem Zustand ist der Kontakt zu unserem Körper kaum bis gar
nicht vorhanden. Unser Geist (Verstand) scheint überall zu sein, doch seltenst bei uns im Hier und Jetzt. Die Verbindung zu den anderen beiden Bestandteilen ist auf diese Weise nicht vorhanden,
was impliziert, dass wir im diesem Zustand nicht vollständig sind. Aus eigener Erfahrung und auch durch die Wahrnehmung meiner Umwelt bin ich davon überzeugt, dass sowohl der emotionale als auch
der psychische Ausgleich erst dann ent - und dauerhaft bestehen kann, wenn Körper, Geist und Seele eine Einheit bilden.
In einem meiner zukünftigen Blogbeiträge wird das Körpergefühl und sein Potential eines der zentralen Themen darstellen. Anhand eines persönlichen und äußerst
eindrücklichen Beispieles werde ich unter anderem darüber sprechen, wie wesentlich die Rolle des Körpers in Wechselwirkung mit dem Geist ist, um den Zugang zur Gegenwärtigkeit und der
einhergehenden Befriedigung zu erlangen.
Um einen ersten Bogen von der Theorie zur Praxis zu schlagen, möchte ich dir abschließend gerne noch zwei Übungen zeigen, die dich spüren lassen, was du
vielleicht schon mit deinem Verstand begriffen hast.
1. Um diese erste schnelle Übung wirkungsvoll zu machen, konzentriere dich zumindest für einige Sekunden lang voll und ganz auf folgende Frage, bevor du zur
Erklärung und anschließend zur nächsten Übung weiter scrollst.
Frage dich laut oder auch nur im Kopf: "Was wird mein nächster Gedanke sein?"
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Hast du etwas bemerkt? Konntest du, wenn vielleicht auch nur einen kurzen Augenblick lang, feststellen, dass da kein Gedanke, sondern lediglich Stille ist?
Wie hat sich das für dich angefühlt?
Indem wir unser Bewusstsein aktiv auf unsere Gedanken ausrichten, können wir etwas sehr wesentliches entdecken - nämlich, dass da noch etwas anderes, von
unserem Denken losgelöstes existiert. Vielleicht wird dieser Versuch nicht beim ersten Mal gelingen, doch ist diese Übung ein erster möglicher Schritt zur Gedankenleere und dem damit verbundenen
Seins-Zustand, welcher einzig in der Stille laut wird.
Eine weitere Übung in die Gedankenruhe zu kommen, bietet uns das bewusste Spüren des Körpers. Es gibt hier viele Möglichkeiten, die allesamt unendlich
ausbaufähig sind. Zum Einstieg schlage ich eine der einfacheren vor, die an sich schon eine kleine Herausforderung darstellen kann. Für diese Übung legst oder setzt du dich am besten in einer
ruhigen Umgebung entspannt hin und sorgst dafür, dass du in dieser Zeit von außen ungestört bleibst. Geschlossene Augen können beim Spüren unterstützend wirken, ebenso wie ein paar erste tiefe
Atemzüge. Richte dann deine Aufmerksamkeit auf irgendeinen beliebigen Teil deines Körpers und spüre, was du an dieser Stelle wahrnimmst. Vielleicht spürst du ein leichtes Kribbeln. Vielleicht
wird dieser Bereich warm oder kalt. Was auch immer du fühlen magst, nimm es einfach nur wahr und spüre weiter. Vielleicht wird auch überhaupt nichts passieren oder aber du spürst ein unangenehmes
Gefühl aufkommen. In diesen Fällen, gehe weiter und spüre andere Teile deines Körpers, indem du deine Aufmerksamkeit darauf richtest. Zu Beginn kann es eine Hilfe sein, bei jenen Körperregionen
zu starten, welche deine Sitz - oder Liegefläche berühren. Spüre, wie sich dein Gewicht auf den Stuhl, das Sofa, das Bett, den Boden oder auf welche Fläche auch immer drückt. Vielleicht wirst du
zwischendurch immer mal wieder abschweifen, weil sich dein Verstand einschaltet. Sobald du das bemerkst, lenke deine Aufmerksamkeit zurück auf deinen Körper und spüre. Je öfter du diese Übung
machst, desto mehr wirst du staunen, was geschieht.
Indem wir unseren Fokus bewusst auf unseren Körper ausrichten, verbinden wir uns mit dem Hier und Jetzt. Wir werden präsent. Indem unser Geist
immer leiser wird, erhält unsere Seele umso mehr Raum. Friedvollen Raum.
Und wir sollten gewappnet sein: Unser Verstand wird uns wahrscheinlich immer wieder in den Ohren liegen. Er ist durch sein Plappern sogar in der Lage, uns
vollkommen vergessen zu machen, was wir ursprünglich vor hatten - nämlich uns mit der Gegenwart zu verbinden. Er kann im Hier und Jetzt nun mal nicht bestehen, daher ist diese Reaktion ganz
normal - zumindest so lange, bis wir spüren, dass wir viel mehr sind, als er uns glauben lassen will.
Kennst du das schier unaufhörliche Geplapper deiner Gedanken? Konntest du dich mit meinen Worten dieses Beitrags vielleicht sogar ein Stück weit
identifizieren? Und falls du die Übungen ausprobiert hast: Wie erging es dir dabei? Konntest du Stille wahrnehmen oder fiel es dir eher schwer, in die Gedankenruhe zu kommen und deinen Körper zu
spüren?
Wie immer freue ich mich, von deinen Erfahrungen zu lesen, ob nun öffentlich in einem Kommentar oder auch gerne über hallo@sofia-christodoulou.de.
Von Herz zu Herz, Sofia.